„Energiesparen“ in der Körperarbeit!

Eines der spezifischen Merkmale des Menschen ist der aufrechte Gang. Im Laufe unserer Entwicklung vom neugeborenen Baby bis zum erwachsenen Menschen, richten wir uns gegen die Schwerkraft auf. Dabei entwickelt der Körper die Haltung, die es ihm ermöglicht, auch unter wechselnden äusseren Bedingungen in funktionell-ökonomischer Weise zu funktionieren. Diesen Prozess müssen wir nicht «lernen» – es ist eine angeborene Fähigkeit und ist ein Beispiel dafür, was unter dem Begriff «funktionell-ökonomisches Körperverhalten» verstanden wird. In der Arbeitsweise von CoreWork® wird der Fokus laufend auf diese natürlich ablaufenden Prozesse gerichtet, um sie in der praktischen Umsetzung der Körperarbeit miteinzubeziehen.

Was wird unter dem Begriff «funktionell-ökonomisches Körperverhalten» verstanden?
Das Erläutern der Teilbegriffe soll in einem ersten Schritt zu einem klareren Verständnis des Begriffes «funktionell-ökonomisches Körperverhalten» hinführen – weitere Definitionen werden folgen:

funktionell:
Bezieht sich auf die Physiologie (Wissenschaft und Lehre von den normalen Lebensvorgängen) und die funktionelle Anatomie (Wissenschaft und Lehre über die Zusammenhänge von Bau und Tätigkeit von Körperteilen und Geweben).
Die vertiefte Auseinandersetzung mit der Physiologie und der funktionellen Anatomie, ist eine Grundlage für das Körper- und Bewegungsverständnis.

ökonomisch:
Das Streben, mit möglichst wenig Aufwand eine grösstmögliche Wirkung zu erzielen.
Es liegt in der Natur des Körpers, dass er grundsätzlich den kleinsten Energieaufwand sucht, um eine bestimmte Haltung resp. Handlung zu erreichen. Er verfolgt dabei das Minimalprinzip: Der Körper strebt ein festgelegtes Ziel (Handlung) mit minimalem Aufwand an. Dieses Streben ist evolutionär bedingt.

Körperverhalten:
Abläufe im Körper, auf Grund innerer und/oder äusseren Impulsen, deren Auslösung und Durchführung auf angeborenen Mustern beruhen (Innate Intelligence).

Jeder Handlung resp. jeder Bewegung geht ein Verlangen und/oder ein Bedürfnis voraus.
Ein Beispiel: Ich habe Durst – dies führt zu Handlungen die das Trinken von Flüssigkeit ermöglichen. Ich greife nach einer Flasche, einem Glas und führe es an meine Lippen oder ich beuge mich zur Wasserquelle; ich öffne den Mund und schlucke die Flüssigkeit.
Dabei überlege ich nicht, welche Muskeln für diese Handlungen aktiviert werden müssen. Das funktionell-ökonomische Körperverhalten sorgt dafür, dass die Spannungs-, Entspannungs- und Dehnungszustände aller für diese Handlung beteiligter Strukturen laufend aufs Feinste abgestimmt werden. Das Streben des Körpers nach einem ökonomischen Mitteleinsatz führt dazu, dass unser Körper in der Haltung als auch in der Bewegung nur diejenigen Muskeln aktiviert, die für eine Handlung effektiv notwendig sind.

Auswirkungen, die den Körper in seiner Funktionalität beeinflussen
Angelernte und antrainierte Bewegungs- resp. Haltungsmuster, Glaubenssätze und/oder ein Körperselbstbild, das nicht der Realität entspricht, können dieses natürliche Körperverhalten jedoch überlagern. In der Folge werden Bewegungen/Handlungen unökonomisch. Es entstehen muskuläre Dysbalancen, welche schlimmstenfalls zu Schmerzen und einseitiger Abnützung der knöchernen Strukturen führen. Was konkret damit gemeint ist, soll im folgenden Beispiel verdeutlicht werden:
Ich habe kein anatomisches Bewusstsein für meine Hüftgelenke; aus Gewohnheit platziere ich im Stehen meine Füsse hüftbreit oder breiter; vielleicht bin ich überzeugt, dass diese Ausrichtung stabiler ist.
Folglich kann der Körper sein Gewicht nicht über seine knöchernen Strukturen abgeben, wie es dem funktionell-ökonomischen Körperverhalten entsprechen würde. Er muss sich in seiner Ausrichtung gegenüber der Schwerkraft muskulär vermehrt stabilisieren. Das Becken kippt je nach entstandenen Spannungsverhältnissen aus seiner anatomischen Mittelposition Richtung Steil- resp. Flachstellung. Dies wirkt sich einerseits auf die Ausrichtung von Wirbelsäule, Schultergürtel und Kopfposition aus – anderseits wird die Funktionalität von Beckenboden und Atemgeschehen beeinträchtigt. In dieser Ausrichtung muss der Körper vermehrt auf periphere Muskelaktivitäten zurückgreifen, um sich gegenüber der Schwerkraft stabilisieren zu können. Dabei werden Bewegungsmuskeln für die Haltung gebraucht, was nicht einer Ökonomie (wie oben beschrieben) entspricht.
Als Folge können Beschwerden wie muskuläre Verspannungen in Gesäss, Leisten- und Lendenbereich, Schulter- und Nackenbereich folgen; Fehlfunktionen von Beckenboden; Einschränkung des Atemverhaltens; arthrotische Veränderungen der Hüftgelenke; Abnützungen der Bandscheiben; Atembeschwerden… um nur Einige zu nennen!

Das «Nicht-Mehr-Tun» führt zu Veränderungen
In der Arbeitsweise von CoreWork® geht es darum, das funktionell-ökonomische Körperverhalten zu erkennen, bewusst zuzulassen und es in Handlungen zu integrieren. In einem ersten Schritt gilt es, die angelernten und unökonomischen „Muster“ ins Bewusstsein zu führen. Dies können Spannungs- oder Bewegungsmuster sein, oder aber auch ein Verhalten, das von Glaubenssätzen geprägt ist (z.B. «Ich darf kein hohles Kreuz machen!»; «Ich muss gerade sitzen!»; etc.). Ein weiterer Schritt in der Körperarbeit ist, diese Muster nicht mehr zu wiederholen. Denn mit jeder Wiederholung «trainiere» ich es weiter – nicht nur muskulär, sondern auch im Nervensystem.
Erst das „Nicht-Mehr-Tun“ führt zu einer neuronalen Umstrukturierung im Gehirn, die es dem Körper ermöglicht, wieder in sein funktionell-ökonomisches Körperverhalten zurück zu finden. Das Resultat ist einerseits eine verbesserte Körperhaltung, die von innen heraus entsteht. Anderseits wird Energie bzw. Kraft frei für Handlungen und Bewegungen – der Körper wird in seiner Arbeit ökonomischer.

…und was ist da schiefgelaufen?
Wie kann es denn dazu kommen, dass bei vielen Menschen der Zugang zum natürlichen funktionell-ökonomischen Körperverhalten verloren geht?
Um eine mögliche Antwort auf diese Frage zu finden, lohnt es sich einen Blick auf die Sichtweise von René Descartes (1596-1650), französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, zu werfen. Descartes gilt als Begründer des modernen frühzeitlichen Rationalismus und einem mechanistischen Weltbild. Der Mensch wird seither als ein denkendes Wesen verstanden, das einen Körper hat – also ein zweigeteiltes Wesen. Diese Perspektive führt zu einer inneren «Entzweiung» – der eigene Körper wird dem Geist zum Fremdkörper. Diese Denkart hat bis heute die moderne westliche Welt geprägt. Der Verstand wird in unserer Kultur als «wertvoller» betrachtet – das Denken wird über die Körperintelligenz gestellt. Der Körper wird als Werkzeug verstanden und als Hülle für den Verstand betrachtet. Und dieser Körper weist immer wieder Mängel auf. Er verursacht Schmerzen, ist einem Alterungsprozess ausgesetzt – funktioniert gerade dann nicht wie wir möchten, wenn es gerade so wichtig wäre! In dieser dualistischen Denkweise will der Verstand diese Defizite natürlich (möglichst rasch) beheben.
An dieser Stelle möchte ich einen weiteren, zeitgenössischen Philosophen zitieren: Yuval Noah Harari erwähnt in seinem Buch «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» (C.H. Beck, München; 2019, S. 152): «Wer sich in seinem Körper nicht mehr zu Hause fühlt, wird sich auch in der Welt nirgends zu Hause fühlen.»
Es ist also essentiell für unser DA-SEIN, dass wir uns mit dem Körper auseinandersetzen und Wege suchen, damit wir uns in ihm wieder zu Hause fühlen. Und dies nicht nur in der Meditations- oder Yogastunde. Die Trennung der Zeit in «Zeit für den Körper» und «Alltagszeit» unterstreicht das dualistische Denksystem erneut. Es gilt in unseren Alltagshandlungen wieder in eine Einheit zurückzufinden – im täglichen Tun im Körper anwesend sein!

Körperwahrnehmung kann man nicht denken!
Um nun dem funktionell-ökonomischen Körperverhalten näher zu kommen, ist in der Methode CoreWork® die Arbeit an der vertieften Körperwahrnehmung sehr zentral. Wenn nun von Körperwahrnehmung gesprochen wird, geht es um leibliche Erfahrungen, die ins Bewusstsein geführt werden. Es geht um den spürenden Körper – sinnliche Erfahrungen wie der Körper auf innere und äussere Einflüsse reagiert, um das Wahrnehmen von Qualitäten.
Da wir in unserer Kultur so tief im dualistischen Denken verankert sind, wartet schon eine weitere Hürde: In der Körperwahrnehmung geht es um die Erfahrung von Qualitäten! Da gibt es kein «richtig» oder «falsch» (der Verstand würde diese Einordnung lieben!).
Es gilt auf der Hut zu sein, dass Körperwahrnehmungen nicht gedacht werden. Wie z.B. «Es sollte sich doch so anfühlen – das ist so richtig!» oder «Das letzte Mal hat es sich so angefühlt, also ist es heute bestimmt auch so!»
Da der Körper als organisches System in dauernder Veränderung ist, braucht es immer wieder aufs Neue eine «kindliche Neugier», ein sich Einlassen auf «wie fühlt es sich heute im Körper an». Es geht darum, sich auf die «Eigenzeit» des Körpers einzulassen und diese Wahrnehmungen als «Navigationshilfen» in unserem Handeln miteinzubeziehen.

Dem Körper seine «Eigenzeit» geben
Möchte man an Veränderungen von Spannungs- und Handlungsmustern arbeiten und sich dem funktionell-ökonomischen Körperverhalten wieder annähern, so setzt dies eine Bereitschaft zum Loslassen voraus. Eine weitere Herausforderung ist, dass «Loslassen» nicht gemacht werden kann. Es können nur Bedingungen geschaffen werden, die das Loslassen unterstützen resp. ermöglichen. Loslassen heisst «Bekanntes», «Gewohntes» verlassen, sich auf Neues einlassen.

In der Arbeit von CoreWork® wird dieser Prozess unter anderem über die «Entspannung bei mentaler Wachheit» angesteuert. Über Bedingungen, die zu einer Entspannung des Körpertonus führen, kommt der Körper seinem angeborenen Verhalten näher. Es braucht dabei jedoch eine mentale Wachheit – ein anwesend sein im Körper, um die inneren Prozesse bewusst wahrzunehmen. Die Wahrnehmung von inneren Vorgängen ist der erste Schritt, der Bewusstseinsprozess der weitere. Dabei kann eine Versprachlichung (aussprechen, aufschreiben) des Erlebten helfen. Dadurch gelangen diese Vorgänge in ein höheres Bewusstsein und können anschliessend in der Körperarbeit resp. in Handlungen mit einbezogen werden.
Wenn das funktionell-ökonomische Körperverhalten wieder vermehrt zum Tragen kommt, bestimmt der Körper in seiner «Eigenzeit» das Tempo in den Veränderungsprozessen. Veränderungen können nicht gemacht oder gedacht werden – es braucht Geduld, Langsamkeit, Ruhe und Präsenz!